Gleiche Arbeit, ungleiche Chancen

12. Juni 2025

Trotz vieler Fortschritte bleiben Frauen in Führungspositionen und MINT-Berufen unterrepräsentiert. Unsichtbare Hürden, tief verankerte Geschlechterrollen und unbewusste Vorurteile zeigen, wie weit der Weg zur tatsächlichen Gleichstellung noch ist. 

Die Arbeitswelt – ein Ort der Vielfalt. Eine bunte Mischung aus Frauen und Männern, Jungen und Alten, Menschen aus allen möglichen Ländern und Hintergründen, so stellen wir uns die Arbeitswelt vor. Doch die Realität sieht anders aus: Es herrscht Ordnung und System. Nicht alle Gruppen sind gleich vertreten – manche fehlen fast vollständig. 

Die Gründe dafür sind vielschichtig - doch eines wird schnell klar: Die Gleichstellung zwischen Mann und Frau ist noch lange nicht erreicht. Besonders in Leitungs- und Entscheidungspositionen sind Frauen deutlich unterrepräsentiert. Etwas mehr als ein Drittel der Führungspositionen war im Jahr 2023 mit Frauen besetzt – im Top-Management beträgt ihr Anteil sogar nur 22%. Je niedriger die Managementebene ist, desto höher ist der Frauenanteil. Auch in den MINT-Berufen fehlen die Frauen: Nur 16% aller Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Ebenfalls besteht nach wie vor ein Lohnunterschied von 16% zwischen Frauen und Männern. Auf der Lohnabrechnung von Frauen fehlen im Durchschnitt monatlich 1'512 Franken im Vergleich zu den Männern. Davon lassen sich 54,6% durch objektive Faktoren wie berufliche Stellung, Dienstjahre oder Ausbildungsniveau erklären. Die restlichen 45,4% bestehen jedoch trotz gleichwertiger Arbeit und bleiben unbegründet. 

Beim Blick auf diese Prozentangaben wird das Ausmass des Ungleichgewichts erst richtig deutlich. Die Zahlen erstaunen und mögen schockieren, diese Ungleichheit weckt Aufmerksamkeit, und Neugier mischt sich mit Überraschung. Warum sind Frauen in Führungspositionen noch immer so stark unterrepräsentiert? Weshalb gibt es so wenige Frauen in MINT-Berufen? Neugierig machen wir uns auf die Suche nach Antworten. 

Die Macht der Rollenbilder 

Wir treffen Kathrin Altwegg, Astrophysikerin und ehemalige Professorin an der Universität Bern, in der Cafeteria der Exakten Wissenschaften der Universität Bern. Die Atmosphäre ist ruhig, der Ort fast menschenleer, nur wenige Studierende sind an diesem späten Nachmittag noch im Gebäude. Fröhlich begrüsst sie uns und lädt uns auf einen Tee ein. Als sie beginnt zu erzählen, sind ihre Motivation und ihr Engagement spürbar. Offen und gleichzeitig nachdenklich berichtet sie von der Zeit, als sie die einzige Frau in ihrem Physikstudium war. Das war vor 50 Jahren. Es ist deutlich, dass sie es als wichtig erachtet, ihre Erfahrungen zu teilen. Sie nimmt sich Zeit für Erklärungen, und ihre Geschichte liefert erste Hinweise, wieso die Verteilung der Geschlechter auch heute noch ungleich ist. 

«Es beginnt eben weit unten», erklärt sie nachdenklich. 

Mit dieser Aussage bringt sie das Wesentliche auf den Punkt. Denn schon im frühen Kindesalter wird den Kindern eingetrichtert, wo sie hingehören: Die Mädchen in die Puppenecke, die Jungen in die Technikecke. Schon früh werden Kindern erste Stereotypen und Geschlechterrollen vermittelt. Mit zunehmendem Alter und Entwicklung passen sie sich gesellschaftlichen Erwartungen an – oft aus Angst vor Ablehnung oder Gruppenzwang.  

Die Erzählungen der Befragten machen deutlich, wie tief Geschlechterrollen in der Gesellschaft verankert sind. Diese Muster zeigen sich nicht in lauten Verboten, sondern Signalen – ein skeptischer Blick, eine beiläufige Bemerkung, unausgesprochene Erwartungen, die sich langsam in das Selbstbild einbrennen. Die Wahl eines MINT-Fachs ist daher selten nur eine Frage des eigenen Interesses. Vielmehr beeinflussen gesellschaftliche Normen und unbewusste Vorurteile diese Entscheidung. Wer sich von der Norm entfernt, erlebt oft Ablehnung oder Zweifel. Besonders junge Frauen spüren diesen Druck, was sie zögern lässt, sich für technische oder naturwissenschaftliche Berufe zu begeistern. So bleiben Frauen in diesen Bereichen weiterhin in der Minderheit. 

Diese Rollenerwartungen gelten auch als einer der primären Erklärungsansätze für die limitierte Anzahl Frauen in Führungspositionen. Denn die Zuschreibung typischer weiblicher Geschlechterrollenmerkmale stehen mit den Zuschreibungen typischer Rollenmerkmale einer Führungsposition in Konflikt. 

Unconscious Bias 

«Schon im Studium, kann ich mich erinnern, dass ein Assistent zu mir sagte, er wisse, dass Frauen das nicht können», erzählt Kathrin Altwegg. Sie blickt erwartungsvoll in die Runde und macht eine kleine Kunstpause, mit der sie die Spannung aufrecht hält. «Es ging ums Löten. Löten ist keine Hexerei», fügt sie belustigt hinzu und schmunzelt vergnügt. Diese Aussage des Assistenten ist ein typisches Beispiel für unbewusste Vorurteile – einen sogenannten Gender Bias. Beim Gender Bias handelt es sich um geschlechtsbezogene Verzerrungseffekte, die dadurch zustande kommen, dass Geschlechterunterschiede nicht angemessen berücksichtigt werden. Gender Bias kann unsere Wahrnehmungen und unser Wissen verzerren, indem er unbewusste Wertungen vermittelt – sowohl positive als auch negative. 

Wenn junge Mädchen ihren Freunden und Verwandten erzählen, dass sie Physik und angewandte Mathematik als Schwerpunktfach gewählt haben, reagieren diese oft mit Kommentaren wie: „Das ist doch extrem schwierig, da muss man doch super schlau sein.“ Ihre Blicke sind oft überrascht, fast schon ungläubig, als ob sie nicht verstehen, warum Mädchen sich für so ein Fach entscheiden könnten. Einige schauen verdutzt, als hätte man etwas Ungewöhnliches gesagt, als ob das Interesse an diesen Fächern völlig abwegig sei. Es kann davon ausgegangen werden, dass Jungs diese Art von Reaktion seltener so erfahren müssen. Bei jungen Männern wird das Interesse an MINT-Fächern eher als normal und sogar bewundernswert angesehen. 

Unconscious Bias beeinflusst unser Verhalten und unsere Entscheidungsprozesse. Einerseits können diese unbewussten Vorurteile negative Auswirkungen auf die beruflichen Aufstiegschancen haben, indem Frauen in Bewerbungsprozessen, Leistungsbeurteilungen und Beförderungen benachteiligt werden. Andererseits beeinflussen sie das psychische Wohlbefinden der betroffenen Frauen. Eine Konfrontation mit Vorurteilen kann zur Folge haben, dass sich die Frauen fehl am Platz fühlen. Besonders betroffen sind Frauen in MINT-Berufen, da diese traditionell als männlich dominierte Bereiche gelten. Sie müssen sich nicht nur gegen Vorurteile behaupten, sondern erleben auch, dass ihre männlichen Kollegen ihre Kompetenz infrage stellen oder ihnen unbewusst weniger zutrauen. Diese ständige Konfrontation kann dazu führen, dass Frauen selbst an ihren Fähigkeiten zweifeln und das Gefühl haben, nicht auf Augenhöhe mit ihren Kollegen zu sein. 

Karriere und Familie - Kein Platz für beides? 

Abb.1: Die Doppelbelastung von Arbeit und Care-Arbeit: Eine Frau kämpft mit Überforderung zwischen Job und Mutterrolle.

Im Buch „Dinge, die ich am Anfang meiner Karriere gerne gewusst hätte“ von Mirijam Trunk erzählt die Autorin bildhaft aus ihrer Kindheit, wie selbstverständlich die Rollenverteilung in ihrer Familie war. Die Mutter war immer da – sie brachte sie ins Bett, bereitete das Essen zu und kümmerte sich um alles. Der Beruf der Mutter? Nicht präsent. Der Vater hingegen fuhr morgens im Anzug in die Stadt, besass das Auto, das Haus und den Fernseher. 

Es mag erstaunen, wie weit verbreitet diese Rollenverteilung auch in der heutigen Zeit noch zu sein scheint. Sicher gibt es heute Familien, die sich vom traditionellen Familienbild gelöst haben, in denen der Vater viel zur Erziehung und der Haushaltsarbeit beiträgt, jedoch wird das traditionelle Familienmodel noch heute in vielen Familien gelebt. So scheint diese traditionelle Rollenverteilung für viele noch selbstverständlich zu sein. Erst mit der Zeit erkennt man, dass diese Selbstverständlichkeit kein Zufall ist, sondern auf tief verwurzelten gesellschaftlichen Strukturen beruht, die bis heute unser Verständnis von Care-Arbeit prägen. Die Lektüre und die Erkenntnisse von Mirijam Trunk mag viele erstaunen, und es zeigt, dass diese festgefahrenen Strukturen noch immer unsere Gesellschaft und unsere Weise, wie wir die Arbeitswelt organisieren, prägen. So beschreibt das Werk von Trunk viele Tipps und Tricks, wie Frau und Mann sich den Lebensalltag jenseits althergebrachter Strukturen einteilen kann. 

Frauen übernehmen nach wie vor den Grossteil der Care-Arbeit. Die Care-Arbeit umfasst unbezahlte Tätigkeiten wie Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Haushaltsarbeit und Gartenpflege. Laut dem Bundesamt für Statistik leisten Frauen wöchentlich rund 30 Stunden unbezahlte Arbeit, während es bei Männern etwa 20 Stunden sind. 

Diese unfaire Verteilung der Care-Arbeit hat weitreichende Folgen: Frauen fehlt oft die Zeit und die Möglichkeit, in einem Vollzeitpensum zu arbeiten, deshalb sind sie häufiger in Teilzeit tätig. Da Führungspositionen meist ein Vollzeitpensum erfordern, bleibt ihnen der Aufstieg in höhere Positionen oft verwehrt. Die Care-Arbeit und die damit verbundene Teilzeitarbeit sind auch ein wesentlicher Faktor für die Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau. 

Ein System von Männern für Männer                                                  

Kathrin Altwegg nimmt einen Schluck Kaffee, lässt ihren Blick durch die Cafeteria schweifen, und sagt dann: «Eine akademische Karriere als Frau ist nach wie vor schwierig.» Anschaulich schildert sie, welche Steine im Weg einer jungen Studentin liegen. Sie erklärt, dass die Karriere mit einem Studium beginnt, welches man mit etwa 24 Jahren abschliesst. Danach folgt eine vierjährige Doktorarbeit, sodass man etwa 28 Jahre alt ist. Anschliessend absolviert man ein meist schlecht bezahltes Post-Doc, oft im Ausland, und ist inzwischen über 30 Jahre alt. Zurück an der Uni bleiben sechs Jahre, also bis etwa 36, um sich durch Publikationen, Konferenzen und weitere Auslandserfahrungen für eine feste Stelle zu qualifizieren. Kathrin Altwegg schaut fragend auf und wirft «Wann haben sie denn Kinder?» in den Raum. Damit bringt sie das Problem auf den Punkt, Kinder- und Erziehungsarbeit gehen nur schwer mit einer akademischen Laufbahn einher.  

Dies ist eines von vielen Beispielen, das zeigt, dass unser System ursprünglich von Männern für Männer gebaut wurde. «Männer sind das DIN-A4-Blatt, die Norm, der Prototyp.», beschreibt Mirijam Trunk in ihrem Buch treffend.  

«Es braucht zwei Personen, einen Partner und ein Chef, die an euch Glauben. Das ist das Geheimnis einer weiblichen Karriere.» 

Die SBB – ein Unternehmen mit Lösungen 

Abb.2: Brigitte Amherd, Leiterin Kultur, Diversity and Inclusion, SBB

Die SBB engagiert sich seit Jahren aktiv für Diversity and Inclusion und verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl die strategische als auch die operative Ebene umfasst. 

Bei einer Tasse Tee, frischem Kuchen und Croissant erklärt Brigitte Amherd, Leiterin Kultur, Diversity and Inclusion bei der SBB, welche konkreten Massnahmen und Ziele das Unternehmen verfolgt, um diese Themen aktiv voranzutreiben. Es wird schnell deutlich, dass hinter diesen Zielen ein echter Wille zur Veränderung steckt. In klaren und ruhigen Worten meint Brigitte Amherd, dass trotz der gesteckten Ziele die Herausforderung spürbar bleibt, diese Veränderungen tatsächlich umzusetzen. 

Weiter erklärt sie gestikulierend, dass auf strategischer Ebene die Normen, Prozesse, Werte und Ziele klar definiert sind. So wurde etwa «Respekt» als Unternehmenswert festgelegt, und mit der Strategie 2030 verpflichtet sich die SBB, Vielfalt und Inklusion gezielt zu fördern. Ein zentrales Ziel dieser Strategie ist die sogenannte Diversity and Inclusion-Ambition, die sicherstellen soll, dass in jedem Führungsteam mindestens zwei Frauen vertreten sind. 

Auf operativer Ebene setzt die SBB gezielte Massnahmen um, um diese Ziele zu erreichen und Diversity and Inclusion im Unternehmen nachhaltig zu verankern. Als Beispiel dafür fördert die SBB Co-Leitungen, bei denen sich in einigen Fällen ein Mann und eine Frau eine Führungsposition teilen. Dies hilft nicht nur, unbewusste Vorurteile abzubauen, sondern ermöglicht es auch Frauen mit Teilzeitpensen, in Führungspositionen aufzusteigen. Eine weitere Massnahme der SBB ist das Programm «Female Empowerment». Dabei handelt es sich um ein Angebot mit Schulungen und Workshops für Frauen, welche sich für einen Schritt in die Führung interessieren.  

«Man muss immer erklären, warum eine Massnahme sinnvoll ist und was es ihnen bringt.» 

Brigitte Amherd lehnt sich zurück und wird für einen Moment still. Dann sagt sie nachdenklich: «Es braucht ganz viele Massnahmen und trotzdem kommt man immer noch sehr langsam voran, weil es eine Kulturveränderung ist», Ein Hauch von Frustration schwingt in ihrer Stimme mit. Ihre Worte lassen den Raum kurz stiller werden und machen deutlich: Trotz aller Initiativen und Anstrengungen bleibt der Weg zu einer echten Veränderung lang und anstrengend.